Deutsch-Russische Museum in Berlin zum Beschluss des Bundestags über „Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs stärken“

Das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst, vertreten durch seinen Direktor Dr. Jörg Morré, zum Beschluss des Deutschen Bundestages:

Der Beschluss des Deutschen Bundestages über „Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges stärken und bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus anerkennen“ (Drucksache 19/23126) ist eine sehr zeitgemäße Stärkung der gegenwärtigen Erinnerungskultur, wie sie sich in Deutschland herausgebildet hat. Unser Bezug auf die Erinnerungskultur in unseren Nachbarländern, die Einbeziehung ihres Blicks auf unsere durch den Zweiten Weltkrieg unheilvoll miteinander verbundene Geschichte und nicht zuletzt unsere immer noch zunehmende Erkenntnis darüber, welche Menschen wo, wann und unter welchen Umständen zu Opfern nationalsozialistischer Vernichtungspolitik wurden, bedarf einer öffentlichen Reaktion. Es ist gut, dass der Bundestag das nun in einen Beschluss gefasst hat.

Das Museum Berlin-Karlshorst als ausschließlich von der Bunderegierung geförderte Einrichtung verfolgt seit über einem Vierteljahrhundert einen Großteil der Ziele, die in dem Beschluss des Deutschen Bundestages genannt werden. Es war bei seiner Gründung 1994 der einzige Ort, an dem dauerhaft der Angriffs- und Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands, auf den die Entschließung des Bundestages eingangs Bezug nimmt, dargestellt wird. Auch wenn inzwischen viele Gedenkstätten und Dokumentationszentren den Vernichtungskrieg in ihre Präsentationen einbeziehen, so ist das Museum in Karlshorst doch immer noch der einzige Ort, an dem das in multinationaler Zusammenarbeit geschieht. In der gemeinsam erstellten Dauerausstellung werden mit großer dokumentarischer Sorgfalt die ideologischen Ursprünge des NS-Vernichtungskrieges hergeleitet, ihre Umsetzung in handlungsleitende Dokumente wie „Hungerplan“, „Kommissarbefehl“ oder „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ detailliert dokumentiert und die daraus resultierende Vernichtungspolitik mit all ihren Konsequenzen dargestellt. Die Folgen der NS-Vernichtungspolitik werden zudem an individuellen Schicksalswegen verdeutlicht und somit durch Personalisierung auch auf einer emotionalen Ebene für das Publikum fassbar gemacht. Der Dokumentation des schier unfassbaren Schicksals der sowjetischen Kriegsgefangenen ist in der Ausstellung ein herausgehobener Platz eingeräumt. Das Thema der Blockade Leningrads wird mit Sachzeugnissen, Dokumenten, Fotos und auch akustisch dem Publikum eindrücklich vor Augen geführt. Häufig übergangene Opfergruppen wie Sinti und Roma, Psychiatriepatienten sowie die von den deutschen Rückzugsverbrechen Betroffenen werden benannt und ihr Schicksal dargestellt. In dem Ausstellungsrundgang werden die unterschiedlichen Schauplätze „im Osten“ und „in Deutschland“ zusammengebracht, was zum Verständnis des Schicksals der sowjetischen Kriegsgefangenen wie auch des Themas Zwangsarbeit unerlässlich ist. Die Dauerausstellung des Museums, auch wenn sie sich auf engstem Raum entfalten muss, leistet Vieles von dem, was der Bundestag nun fordert. Vor allem leistet das Museum den immer wieder zu unternehmenden Kraftakt, mitunter vollkommen verschiedene methodische, wissenschaftliche, nationale, staatliche oder eben auch bewusst nicht-staatliche Darstellungen der Geschichte unter einem Dach zusammen zu bringen. Es lebt den Perspektivwechsel.

Die Entstehung des einmaligen Museums erfolgte vor knapp 30 Jahren in einem Prozedere, wie es der Bundestag nun für das geplante Dokumentationszentrum vorsieht: „Im Austausch mit europäischen Nachbarn und Wissenschaftlern aus den von der deutschen Besatzung besonders betroffenen Ländern“ wurde ab 1991 die Konzeption des heutigen Museums diskutiert und schrittweise in die Form gebracht, die es heute hat. Waren es damals sowjetische Partner, die den deutschen Vertretern gegenübersaßen, so sind es heute in Karlshorst russische, belarussische und ukrainische Partner. Sie alle sind mit Sitz und Stimme in der Mitgliederversammlung des Trägervereins des Museums vertreten. Allerdings war die damalige Gründungszeit geprägt von einem Geist der Zusammenarbeit, den es im heutigen politischen Europa so nicht mehr gibt. Die damalige Zeit war auch, das muss man zweifelsohne eingestehen, von einer deutsch-russischen Zusammenarbeit geprägt, die polnische Perspektiven, wie auch die anderer ostmitteleuropäischer Staaten hintanstellte. Trotzdem war der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 immer schon ein wichtiger Bezugspunkt in der musealen Darstellung in Karlshorst. Er ist es, nachdem die Dauerausstellung 2013 grundlegend überarbeitet wurde, auch heute noch.

Das Museum Berlin-Karlshorst ist ein historischer Ort, wie auch ein historisch gewachsener Erinnerungsort. In dem heutigen Museumsgebäude kapitulierte die Wehrmacht am 8. Mai 1945. Der Saal, in dem das passierte, ist bis heute originalgetreu erhalten. Er findet sein großenteils ausländisches Publikum. Denn die immer noch weit verbreitete deutsche Ignoranz gegenüber dem Ort des Kriegsendes in Berlin lastet auf dem Haus. Die Wiederholung des zuerst im französischen Reims am 7. Mai vollzogenen Kapitulationsaktes vor dem sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst wird hierzulande immer noch gerne als ein beschwichtigendes Geschenk der Westalliierten an Stalin missverstanden, das aber ohne weitere Bedeutung gewesen sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Kapitulieren der Wehrmachtsführung auch vor dem Oberkommando der Roten Armee für die Einforderung des gemeinsamen alliierten Kriegsziels der bedingungslosen Kapitulation an allen Fronten von konstituierender Bedeutung für die Beendigung des Krieges in Europa war. Erst dieser Akt zwang die Wehrmacht, und das mit ausdrücklich eingeforderter Autorisierung durch die Reichsregierung, nicht nur an der Westfront, sondern erstmals auch an der Ostfront zu kapitulieren. Zwei Jahre zuvor in Stalingrad hatte sich Generalfeldmarschall Paulus jeglicher Verantwortung – militärischer, deutscher und wie auch vor der Geschichte – entzogen, indem er sich als Privatmann in Gefangenschaft begab. Das von den Siegermächten an beiden Fronten erzwungene deutsche Eingeständnis schuf die Basis, auf der wir uns heute unserer geschichtlichen Verantwortung stellen können. Der Kapitulationsakt in Karlshorst öffnete quasi die Tür, durch 1990/91 die einstigen Kriegsgegner gemeinsam gingen, indem sie einen gemeinsamen Erinnerungsort schufen.

In dem vergangenen Vierteljahrhundert ist viel geschehen, was nun die Entschließung des Bundestages sinnvoll erscheinen lässt. Der Vernichtungskrieg ist ausgiebig in der Fachwissenschaft diskutiert und erforscht worden. Eine in dieser Diskussion normsetzende Ausstellung zu der deutschen Kriegsführung 1939 in Polen („Größte Härte“; 2005 am Deutschen Historischen Institut Warschau entstanden) kam 2009 auch nach Karlshorst. Im Museum stellte das Instituts für Zeitgeschichte auch seine fünfbändige Reihe vor, die wissenschaftlich fundiert die kategorialen Unterschiede und Gemeinsamkeiten von „Vernichtungskrieg“ auf den unterschiedlichen Kriegsschauplätzen „im Osten“ wie „im Westen“ auslotete. 2011 bündelte das Museum die Initiative für das Erinnern an die Vergessenen Opfer in einem großen Gedenkakt in der Berliner Philharmonie anlässlich des 70. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Daran schloss sich eine auf vier Jahre ausgedehnte Vortrags- und Veranstaltungsreihe zu den „Vergessenen Opfern des Vernichtungskriegs im Osten“ an, die von einem Konsortium wichtiger Akteure der deutschen Erinnerungskultur getragen wurde, zu dem neben dem Museum auch die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas gehörte. Am Museum entstand eine heute online abrufbare Dokumentation aller Orte, an denen in der Bundesrepublik die sowjetischen Opfer dieses Vernichtungskriegs als Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder eben auch im Kampf gefallene Soldaten ihr letzte Ruhe fanden. Und obgleich es rund 3.500 über das ganze Bundesgebiet verteilte Orte sind, so werden sie im Alltag doch übersehen. Es ist wirklich wichtig, diese Opfer dem Vergessen zu entreißen. Es ist aktuell notwendig, öffentlich geäußerten Verharmlosungen entgegenzutreten. Und es reicht offenkundig nicht aus, den Vernichtungskrieg nur in einer deutsch-russischen Perspektive zu betrachten.

Der Beschluss des Bundestages aber sollte die gemachten Erfahrungen nicht ignorieren. Die postulierte „europäische Perspektive“ wird im Museum Karlshorst schon lange gelebt, obgleich nicht in dem umfassenden Sinne, wie es der Bundestag formuliert. Aber obwohl die Russische Föderation und die Ukraine faktisch seit sechs Jahren Krieg gegeneinander führen, kann das Museum den Kontakt zu seinen Partnern in Moskau und Kiew halten. Es kann das, weil in 25 Jahren belastbare Strukturen und kollegiale Beziehungen gewachsen sind. Wir zeigen Ausstellungen aus Russland aus staatlichen Museen wie auch von NGOs wie Memorial. Und wir laden immer wieder Gäste aus allen ost- und westeuropäischen Ländern ein. Dazu nutzen wir den für alle unsere europäischen Partner wichtigen Bezugspunkt „Kriegsende“, den sie häufig mit dem deutschen Kapitulationsakt in Verbindung bringen. Aber fassungslos stehen wir den auseinanderdriftenden Erinnerungsdiskursen in Deutschland, Russland und der Ukraine gegenüber. Und über die Entwicklung in Belarus ist dabei noch gar nicht die Rede. Und direkten Anteil haben wir an dem erbitterten innerpolnischen Kampf um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig genommen. Nicht immer gelingt es uns überzeugend, die massiven Ansprüche staatlicher russischer Erinnerungspolitik am historischen Ort in Berlin auszutarieren. Aber wir sind und bleiben im Gespräch. Es ist ein Prozess unter sich in den Zeitläuften stetig wandelnden Bedingungen.

Der Austausch mit allen unseren europäischen Nachbarn ist wichtig und richtig, und ebenso ist der in den frühen 1990er Jahren zeitgemäße Ansatz in Karlshorst immer noch ein unerlässlicher Akt der Versöhnung. Er hat sich nur scheinbar überlebt. Überflüssig ist er nicht geworden. Wenn das Dokumentationszentrum als Ort der Begegnung und des Austauschs auf gesamteuropäischer Ebene funktionieren soll, so muss es die schon lange bestehenden Initiativen und Institutionen in der deutschen Gedenkkultur einbeziehen. Karlshorst ist nur eine dieser Institutionen. Sie ist aber die einzige, die institutionell mit drei, schwer von der NS-Vernichtungspolitik betroffenen Länder zusammenarbeitet. Wenn das Dokumentationszentrum eines Tages seine Türen öffnet, so sollte es mit seinem Vorläufermodell Karlshorst eine feste Einheit geschlossen haben.