Zarensturz – Das Ende der Romanows – ZDFzeit-Dokumentation

Hundert Jahre nach den beiden Revolutionen in Russland richtet die Dokumentation den Blick auf das Geschehen von 1917: Im Februar setzten bürgerliche Kräfte, gemäßigte Sozialdemokraten, revoltierende Arbeiter, aber auch Adelige und Militärs der 300-jährigen Herrschaft der Romanows ein Ende. Den blutigen Schlussstrich unter ihre Ära aber zogen die Roten Revolutionäre im Oktober. Von Angesicht zu Angesicht erschossen sie den Zar und seine Familie. Es war ein Wendepunkt der Weltgeschichte.

Zarensturz – Das Ende der Romanows

ZDFzeit-Dokumentation

ZDF, Dienstag, 14. Februar 2017, 20.15 Uhr

Es war ein Gemetzel, das sich am 16. Juli 1918 in Jekaterinburg ereignete. Auch deshalb hatten Lenins Vollstrecker den Befehl, das Geschehene zu verheimlichen und alle Spuren zu beseitigen. Ein an der Erschießung beteiligter Tschekist, Grigori Nikulin, gab in einem lange geheim gehaltenen Tondokument aus den 60er Jahren freimütig zu: „Nicht alle waren sofort tot, der Kleine (gemeint war Thronfolger Alexei) rührte sich noch, also mussten wir noch einmal draufhalten und feuern“. Während der Sowjetzeit gab es nie ein offizielles Eingeständnis, dass damals auch die Kinder der Romanows sterben mussten und wie sie zu Tode kamen. Solche Brutalität, das wussten auch die Revolutionäre von 1918, konnte auf die Bolschewiki zurückfallen. Selbst der deutsche Kaiser als Kriegsgegner von Nikolaus II. mühte sich festzustellen, nichts mit den Vorgängen zu tun zu haben. Präventiv, denn die westlichen Alliierten wussten, wie tatkräftig das Deutsche Reich Lenins Revolution unterstützt hatte, um sich den Siegfrieden im Osten zu erkaufen. Der britische König mochte womöglich in sich gehen, weil er immerhin dem verbündeten und verwandten russischen Kaiser kein Asyl gewährt hatte, aus Sorge, bei der britischen Arbeiterschaft den Rückhalt zu verlieren. Nun war der Vetter tot. Kein anderer Monarch erlitt in diesem Schlüsseljahr 1918 ein so tragisches Schicksal. Die britische Krone ging sogar gestärkt aus dem „Weltenbrand“ hervor, den deutschen Kaiser Wilhelm II. ließ man in den Tagen der deutschen Revolution, unbehelligt ins Exil nach Holland ausreisen. Und der Habsburger Kaiser Karl zog sich nach Kriegsende „in allen Ehren“, wenn auch zuletzt in Zivil, in ein Refugium in der Schweiz zurück.

Zar Nikolaus II (Anton Algrang) im Kreise seiner Lieben.

Zarensturz – Das Ende der Romanows

Warum also diese radikale Abrechnung mit den Romanows? Es war ein regelrechtes Ausmerzen. Nach der Liquidierung wurden einige der Leichen mit Säure entstellt, um sie unkenntlich zu machen, bevor man sie dann in einem Waldstück verscharrte. Das Ende kam in Etappen. Die Romanows haben nicht nur Rote Revolutionäre gegen sich aufgebracht, sie hatten den Bogen wie kein anderes europäisches Herrscherhaus überspannt. Nirgendwo war die Kluft zwischen Herrschern und Beherrschten größer. Zarin Alexandra schrieb einmal an ihre Großmutter, Queen Victoria: „Russland ist nicht England. Hier müssen wir nicht die Liebe der Menschen erwerben. Das russische Volk verehrt seine Zaren als göttliche Wesen, von denen alle Wohltaten und alles Glück stammen“: Zar Nikolaus sah sich vor allem Gott gegenüber in der Pflicht und weniger seinem Volke; dann der unermessliche Reichtum der Romanows, ihr Hofstaat, der größte der Welt, die riesigen Paläste mit ihren unglaublichen Schätzen; schließlich die Person des russischen Kaisers. Einerseits verstand sich Nikolaus II. als von Gott Berufener. Andererseits soll er noch am Totenbett seines jung verstorbenen Vaters offenbart haben: „Ich bin nicht darauf vorbereitet Zar zu sein, ich wollte nie einer werden“. Tatsächlich fehlte es ihm an Eignung und Erfahrung, „Der falsche Mann, am falschen Ort, zur falschen Zeit“, sagt Prinz Michael von Kent im ZDF-Interview, ein Nachfahre von Queen Victoria. Das Amt war zu groß für diesen Romanow. Hier zeigte sich die Schwäche eines Systems, bei dem die Erbfolge und nicht die Befähigung über Herrschaft und Macht entschied. Zu keiner Zeit begriff der Zar wirklich, was in seinem Riesenreich vor sich ging: der soziale und wirtschaftliche Wandel, die daraus resultierenden Nöte der Unterschichten, die Folgen des Hungers in den Kriegsjahren, die Versorgungskrise der Armee, das militärische Debakel.

Zar Nikolaus II (Anton Algrang, 2.v.r.) im Kreise seiner Töchter und der Zarin Alexandra (Isabel Mergl, 2.v.l.).

Die radikale Revolution

Als dann im Februar 1917 die Revolte in Petrograd losbrach, verstand Nikolaus nicht, dass pure Not die Menschenmassen auf die Straße getrieben hatte, auch die eigenen Soldaten. Weil Widerstand nicht in sein Weltbild passte, reagierte der Zar lapidar: „Ordnung wieder herstellen, notfalls liquidieren!“ Doch da war ihm die Macht schon entglitten, selbst hohe Generäle seiner Armee legten ihm nahe, zurückzutreten. Und er glaubte noch, das Volk werde seinen Rückzug nicht einmal verstehen können. Die Zarin sprach gar vom „Untergang Russlands“ – es war der ihrige.
Die gemäßigte provisorische Regierung unter dem Liberalen Lwow, später dann unter dem Sozialisten Kerenski, wahrte noch einen gewissen Respekt vor dem entmachteten Herrscher. Doch die Gemäßigten lernten bald, wie schwer es war, sich vom Erbe der Zarenzeit zu lösen. Sie führten den Krieg weiter, ließen die Besitzverhältnisse weitgehend unangetastet und wurden der Krise nicht Herr. Dabei war Großartiges geschehen: Russland war zum ersten Mal Republik, mit Presse- und Meinungsfreiheit, die Todesstrafe wurde abgeschafft. Doch half das?
Die Lage spielte denen in die Hände, die mit populären Botschaften den radikalen Schnitt forderten: den Krieg beenden, Land und Besitz verteilen, die Versorgung sichern – solche Parolen verfingen sich bei den Soldaten, Arbeitern, Bauern und ihren Familien. So nahm die Rote Revolution im Herbst 1917 ihren Lauf und gewann rasch die Züge einer skrupellosen Diktatur.
Das wiederum rief Gegen-Revolutionäre auf den Plan: die Bürgerlichen, gemäßigte Sozialdemokraten, Konservative, Zarentreue. Die Westalliierten schickten Truppen, weil das bolschewistische Russland aus der Koalition ausscherte. Die sogenannten „Weißen“ kämpften gegen die „Roten“. Würden innere und äußere Gegner des Umsturzes den Monarchen am Ende befreien und womöglich wieder einsetzen? Das erinnerte an die Radikalisierung während der Französischen Revolution, da rollten Köpfe, um das zu verhindern. Und auch Lenins Vollstreckern in Jekaterinburg diente das Motiv als Vorwand: „Ihre gekrönten Verwandten haben versucht, Sie zu retten. Daher sind wir gezwungen, Sie zu erschießen“, verkündete Jakow Jurowski, Befehlshaber des Exekutionskommandos, im Angesicht der todgeweihten Zarenfamilie. Und dann vollzogen die Bolschewiken den radikalen Schnitt: „Wir haben etwas Großes vollbracht und die Dynastie ausgelöscht“, brüstete sich Jurowski später.

Ob Lenin den Befehl dazu erteilt hatte, blieb lange umstritten. Trotzkis Tagebucheintragungen sprechen dafür. Und wäre ein solcher folgenreicher Schritt ohne Zustimmung des Revolutionsführers überhaupt vorstellbar? Lenin, so die Überlieferung, habe, als er von der Erschießung erfuhr, wenig Regung gezeigt und eine Sitzung fortgesetzt, bei der es um einen Gesetzesentwurf ging: „Wir gehen Artikel für Artikel durch!“, soll er unberührt gesagt haben. Verhält sich so ein Überraschter? Sicher nicht, der Zarenmord passt in die mitleidslose Radikalität, mit der Lenin jener historischen Umwälzung den Stempel aufprägte. Das Schicksal der Romanows mutet an wie die Folge eines Pendelschlags, bei dem sich gegensätzliche Kräfte mit äußerster Gewalt entladen. Provozierte die Rückständigkeit der zaristischen Autokratie geradezu diese fundamentale und rigorose Revolution? Es bleibt wohl eher eine Frage der Geschichtsphilosophie als eine der Geschichtsschreibung, ob auf das eine Extrem ein anderes folgen musste.

Quelle Text und Fotos: ZDF