Deutsche Unternehmen erwarten keine Abwendung Russlands von der EU

Die Befürchtungen der deutschen Unternehmen vor einer Abwendung Russlands von der EU Richtung China haben deutlich abgenommen. Dies ist eines der Ergebnisse der jährlichen Geschäftsklima-Umfrage des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft und der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK). Die Umfrageergebnisse stellten der neue Ost-Ausschuss-Vorsitzende Wolfgang Büchele und der Präsident der AHK Rainer Seele am Freitag im Vorfeld der Deutsch-Russischen Mittelstandskonferenz in Berlin vor.

Nur noch 15 Prozent der 152 befragten deutschen Unternehmen mit Russland-Geschäft meinen, dass China sich zum bevorzugten Wirtschaftspartner Russlands entwickelt. Im Vorjahr waren noch fast 50 Prozent dieser Ansicht. Die Hälfte der Befragten geht davon aus, dass sowohl die EU als auch China für Russland wichtige Wirtschaftspartner bleiben. Fast ein Fünftel erwartet inzwischen sogar, dass die EU der bevorzugte Partner Russlands bleibt.

„Russland orientiert sich wieder mehr nach Europa. Der Wille zur Erneuerung der Partnerschaft nimmt zu. Wir hoffen, dass kluge Politik diese Signale aufnimmt und noch stärker auf gemeinsame Lösungen hinarbeitet, die wir für wirtschaftliches Wachstum und die Entschärfung einer Vielzahl von Konflikten dringend brauchen“, sagte der Ost-Ausschuss-Vorsitzende Büchele in Berlin.

Moskau

Ziel: Gemeinsamer Wirtschaftsraum

Büchele und Seele warben nachdrücklich für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion, um auch den Ukraine-Konflikt zumindest wirtschaftlich zu entschärfen und den Zerfall Europas in konkurrierende Wirtschaftsblöcke zu verhindern. Drei Viertel der befragten Firmen beurteilen die Vision eines Wirtschaftsraums „von Lissabon bis Wladiwostok“ positiv. „Es liegt auf der Hand, dass die deutsche Wirtschaft, die so stark auf Export orientiert ist, an freien und offenen Märkten und an gleichberechtigter Zusammenarbeit starkes Interesse hat. Russland war, ist und bleibt ein strategischer Wirtschaftspartner für Deutschland. Wir sollten deshalb die Modernisierungspartnerschaft unbedingt wieder zum Leben erwecken und alles tun, um zu einem Freihandelsraum vom Atlantik bis zum Pazifik zu kommen“, so AHK-Präsident Seele.

Wirtschaftlich steht den deutschen Unternehmen in Russland nach ihrer Einschätzung ein weiteres Krisenjahr bevor. Bereits im Vorjahr beobachteten 94 Prozent der befragten Unternehmen eine Verschlechterung des Geschäftsklimas. Für 2016 erwarten 82 Prozent der Befragten eine negative oder leicht negative Entwicklung der russischen Wirtschaft. Diese skeptischen Aussichten beeinträchtigen auch die Exporterwartungen: 57 Prozent der befragten Unternehmen gehen für 2016 von weiter rückläufigen Ausfuhren nach Russland aus.

„Um das Positive voran zu stellen: Die Erwartungen für dieses Jahr sind schon besser als für 2015. Nichtsdestotrotz befindet sich Russland in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation, die auch Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft hat. Wir beobachten aber mit großer Erleichterung, dass sich das Gesprächsklima, die Gesprächsbereitschaft und der Wille zur Kooperation wieder deutlich verbessert haben“, so Seele.

Starker Einbruch des bilateralen Handels

Im Gesamtjahr 2015 ist der deutsch-russische Handel um ein Viertel gesunken. Die deutschen Exporte nach Russland brachen dabei um 7,5 Milliarden Euro (-25,5 Prozent) ein. „Gemessen am bisherigen Rekordjahr 2012 hat sich der deutsche Export in den vergangenen drei Jahren von 38 Milliarden auf 21 Milliarden Euro fast halbiert“, kommentierte Büchele. Hinzu kämen 2015 weitere starke Einbrüche auch bei den Exporten in die Ukraine (-18 Prozent), nach Kasachstan (-27 Prozent) und in weitere Länder der Region. Derzeit gebe nur der Handel mit Südosteuropa Anlass zur Freude: So legten die deutschen Exporte mit den jungen EU-Ländern Rumänien (+13 Prozent) und Kroatien (+16 Prozent) deutlich zu.

Kritik an Sanktionen nimmt weiter zu

Bezüglich der seit Sommer 2014 zwischen der EU und Russland bestehenden Wirtschaftssanktionen wächst unter den befragten Unternehmen die Ungeduld: 60 Prozent plädieren für die sofortige Aufhebung der Sanktionen, weitere 28 Prozent fordern deren schrittweisen Abbau. Nur zwölf Prozent sehen einen Anlass zur Beibehaltung der Sanktionen. Vor einem Jahr hatte dieser Wert noch bei 24 Prozent gelegen.

„Die Aufhebung der gegenseitigen Sanktionen würde die russische und die ukrainische Wirtschaft natürlich nicht über Nacht beleben können“, sagte Büchele: „Aber dieses Signal könnte zu einem erheblichen Investitionsschub in ganz Osteuropa führen. Die Sanktionsspirale der vergangenen beiden Jahre hat die Unternehmen nachhaltig verunsichert, Investitionen liegen auf Eis. Wir hoffen daher, dass wir spätestens im Sommer 2016 einen Einstieg in den Ausstieg aus den Wirtschaftssanktionen sehen werden.“

Besorgt zeigte sich Büchele bezüglich der Wirtschaftsentwicklung in der Ukraine: „Das Reformtempo lässt nach, die Exporte der Ukraine in die EU springen trotz des Assoziierungsabkommens nicht an, gleichzeitig bricht der ukrainische Export nach Russland aufgrund wechselseitiger Sanktionen massiv ein“, so Büchele. „Deshalb halten wir eine Wiederaufnahme des im Dezember abgebrochenen Trialogs zwischen der EU, Russland und der Ukraine über gemeinsame wirtschaftliche Lösungen für dringend notwendig.“

Russland bleibt als Markt interessant

Das schlechte Geschäftsklima und die negativen Aussichten für 2016 belasten die deutschen Unternehmen im Russland-Geschäft spürbar. Lediglich 16 Prozent der Unternehmen bewerten ihre wirtschaftliche Lage mit gut oder sehr gut. Diese Einschätzung bremst auch die Einstellungs- und Investitionsbereitschaft. Immerhin wollen aber mehr als zwei Drittel der deutschen Unternehmen in Russland ihren Personalbestand mindestens halten oder sogar ausbauen. Die Investitionsbereitschaft bleibt dagegen auf dem niedrigen Niveau des Vorjahres. Mehr als drei Viertel der befragten Unternehmen planen 2016 keine Investitionen in Russland, 30 Prozent der Unternehmen haben geplante Investitionen in zusammengenommen dreistelliger Millionenhöhe zurückgestellt.

Die Zahl der in Russland vertretenen Unternehmen mit deutschem Kapitalanteil hat sich 2015 unter dem Eindruck der Krise von 6.000 auf 5.600 reduziert. Die Mehrzahl der auf dem russischen Markt aktiven deutschen Unternehmen plant allerdings keine Reduzierung ihres Engagements. Drei Viertel der befragten Unternehmen wollen ihre Aktivitäten in Russland auf dem bisherigen Niveau halten oder sogar ausbauen. Dies zeigt, dass die langfristigen Aussichten des russischen Marktes ungeachtet der aktuellen Wirtschaftskrise offenbar nach wie vor positiv beurteilt werden. Seele: „Der Markt hat sich doch nicht urplötzlich komplett verändert. Natürlich sind die augenblicklichen Bedingungen nicht ideal, aber Größe, Attraktivität, mittelfristig auch wieder Umsatz- und Gewinnerwartungen und die dringende Notwendigkeit einer Modernisierung und weiteren Industrialisierung Russlands sind weiterhin gute Argumente für Russland.“

Politik der Importsubstitution wird skeptisch gesehen

Die russische Regierung hat auf die westlichen Sanktionen im März 2015 mit einem Programm zur Importsubstitution reagiert. Im Zuge dessen werden auch die Lokalisierungsanforderungen verschärft. Die befragten deutschen Unternehmen beurteilen diese Politik mit Blick auf ihre Auswirkungen mehrheitlich skeptisch: 44 Prozent erwarten negative Folgen für das eigene Unternehmen. Nur ein Fünftel der Befragten verbindet die Importsubstitutionspolitik mit Chancen für das eigene Unternehmen.

„Es gibt nicht wenige Unternehmen, die ihre Chancen, im russischen Markt zu expandieren oder zu beginnen, jetzt nutzen, auch um dann von den erweiterten Möglichkeiten der Eurasischen Wirtschaftsunion, geringen Kosten und Währungsrisiken und dem Status als lokaler Produzent zu profitieren. Die Lokalisierungsanstrengungen der russischen Regierung tragen sicherlich zu einer Beschleunigung solcher Entscheidungen bei. Kritisch betrachten wir jedoch Prozesse, die den Markt abschotten, einseitig russische Hersteller begünstigen und zu Monopolbildungen führen“, unterstreicht Seele die Notwendigkeit von Reformen.

Der Reformbedarf in Russland bleibt unverändert groß. Dabei bleiben Korruption und bürokratischer Aufwand aus Sicht der deutschen Unternehmen im Russland-Geschäft die größten Reformbaustellen. Als Vorteile des russischen Marktes werden vor allem das Konsumverhalten und die geringe Steuerlast wahrgenommen. Die befragten Unternehmen halten wie schon im Vorjahr die Landwirtschaft und Ernährungsindustrie für die wachstumsstärksten Branchen in Russland.

Hintergrundinformationen zur Umfrage

Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer haben im Januar 2016 zum 13. Mal ihre jährliche Umfrage zum Geschäftsklima in Russland unter deutschen Unternehmen im Russland-Geschäft durchgeführt. Schwerpunkte waren die Investitionsbedingungen vor Ort, die aktuellen Geschäftseinschätzungen der Unternehmen und deren Erwartungen an die zukünftige russische Wirtschaftspolitik, aber auch die Folgen der Wirtschaftssanktionen und des wirtschaftlichen Abschwungs in Russland. Insgesamt 152 Unternehmen haben sich an der Umfrage beteiligt. Die befragten Unternehmen stehen für über 131.000 Beschäftigte in Russland und setzten dort im 1. Halbjahr 2015 über elf Milliarden Euro um.